Was ist ein Essay?

„Ein Essay ist eine geistreiche, allgemein verständliche, gewöhnlich kurze Abhandlung, die ein Thema oft aus dem Blickwinkel des Autors darstellt.“ (Wictionary) Essays sind kürzer als Fachartikel und ausführlicher als Posts in sozialen Medien.

Essay 1: Fallverstehen und psycho-soziale Diagnostik

Unstrittig ist, dass psycho-soziale Dienstleistungen dann wirken, wenn die Hilfe passt. Dass Problem ist, dass man diese Passung erst am Ende einer Intervention zweifelsfrei feststellen kann. Wenn kein Problem gelöst wurde, wenn die Hilfe vorzeitig ohne Zielerreichung abgebrochen wurde oder neu aufgelegt werden musste, dann hat es eben nicht gepasst. 

Im Gesetz steht, dass Bürger unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat auf eine geeignete Hilfe haben. „Geeignet“ dürfen wir getrost mit „passend“ übersetzen. Hier stellt sich aber das Problem, dass man bei der Hilfeplanung noch vor dem Anfang der Dienstleistung und einer Entscheidung steht, ob überhaupt eine Hilfe nötig ist, welche Hilfe ausgewählt wird und wie diese ausgestaltet werden soll. Die Eignung kann nur vermutet werden.

Eigentlich handelt es sich bei der Auswahl einer Hilfeform und eines Leistungserbringers und bei der Ausgestaltung der Hilfe um eine Wette auf die Zukunft, deren Wettquote man auch nicht genau kennt. Nach unseren Daten zum Ausgang von Hilfen zur Erziehung liegt die Eignung je nach Hilfeform bei 40 % bis 66% der Hilfeverläufe. Gemessen an den Wettkosten (Zeit, Geld, Hoffnungen, Arbeit …) ist das keine besonders attraktive Wette. 

Wie also ließe sich die Wettquote verbessern? Es gibt eine ganze Reihe von Wirkfaktoren und Vorgehensweisen, mit denen die (erhoffte) Eignung sich am Schluss wahrscheinlicher bewahrheitet. Eines davon ist ein richtiges Fallverstehen und eine fachlich saubere Diagnostik in der Hilfeplanung. 

Zum Fallverstehen gehört, dass die zuständige Fachkraft ein Gefühl (hier meinen wir Kopf und Herz) dafür bekommt, was der Klient braucht, was ihm Sorgen macht, ihn belastet und was ihn daran hindert, sein Problem aus eigener Kraft zu lösen.[1] Bei der psycho-sozialen Diagnose geht es um die kausalen Vermutungen, welche die Ursachen für die hartnäckigen Probleme sind, wie sie entstanden sind, was sie am Leben hält und was einer Veränderung und Lösung entgegensteht.

Um die Hoffnungen auf Wahrheit gleich zu zerstreuen: Eine Diagnose ist immer eine Hypothese, für die etwas spricht. Sicherheiten liefert sie nicht. Man kann auf den Fall keinen Zettel kleben mit der Aufschrift: „So ist es!“ Hypothesen sind begründete Vermutungen, deren Bewahrheitung sich erst in der Praxis erweist.

Dennoch: eine Diagnose ist mehr als ein Raten oder ein Wurf mit einer Münze. Es kommt sehr auf die Qualität der Diagnose an, und diese steigt mit der Sorgfalt und der Kenntnis der diagnostizierenden Fachkraft. Man muss schon etwas Berufs- und Lebenserfahrung mitbringen und einige Kenntnis in Entwicklungspsychologie, Psychopathologie, Lebensfeldtheorie und Systemtheorie haben. Ein wenig Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie kann auch nicht schaden, aber hier sollte man vorsichtig sein, sich nicht zu überschätzen. Wichtig ist es vor allem, in die Diagnose nicht seine eigenen Geschichten einzumischen. Dabei helfen das Mehraugenprinzip und Super- oder Intervision.

Eine Diagnose ist keine geheime Erkenntnis eines Experten oder einer Expertin, sondern sie sollte den Adressaten gegenüber transparent gemacht werden. Das ist ein guter Test dafür, ob sich die Fachkraft ihrer Sache sicher ist und sie genug Gründe für die Plausibilität ihrer Hypothese hat. Die Frage an den Klienten könnte sein: „Macht das für Sie / für dich Sinn?“ „Könnte das eine Annahme sein, die neue Wege eröffnet?“ Heikel kann so ein Gespräch werden, wenn für den Klienten in der Diagnose eine Kränkung oder Schuldzuweisung liegen könnte. Hier ist das Geschick der Fachkraft herausgefordert, etwas Kritisches so zu sagen, dass man nicht sofort einen Widerstand auslöst. Manche Vermutungen lassen sich vielleicht auch nicht platt konfrontierend ausdrücken, sondern sind Teil der Intervention.

Diagnosen zu erstellen ist eher eine Kunst als eine Technik. Es erfordert „handwerkliches“ Geschick, Intuition und Kreativität, kommunikative Fähigkeiten, eine reife „erwachsene“ Persönlichkeit und ein unterstützendes Team. Und Zeit. 

Das ist im tatsächlichen Arbeitsfeld nicht immer gegeben. Deswegen entwickelt das e/l/s-Institut zurzeit ein praktikables Werkzeug, das die Arbeit beim Fallverstehen und Diagnostizieren erleichtern und unterstützen kann. Mit dieser Methode wird zugleich dokumentiert und qualifiziert, und es werden die Ergebnisse evaluiert und es wird Praxisforschung ermöglicht. 

Über die Entwicklung von WIMESdiag informieren wir regelmäßig. Im Herbst 2025 sollte das Instrument fertig sein und eine Demoversion angefordert werden können.


[1] Dieser Satz klingt in gegenderter Form fürchterlich. Wir meinen hier Menschen dreierlei Geschlechts und Familiensysteme.